German Council Magazin 05.2018 - page 14

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GCM 5/2018
GERMAN COUNCIL . PERSPEKTIVE
GESPALTENES LAND
Deutschlands Wirtschaft wächst, die Zahl der Beschäftigten ist auf Rekordniveau – und dennoch
steigt die Armut im Land scheinbar unaufhaltsam. Kann doch eigentlich gar nicht sein, oder? Wie
knifflig die Sache ist, zeigt der Blick auf dieses gesellschaftliches Phänomen aus unterschiedlichen
Blickwinkeln ...
Marode Häuser, kaputte Straßen – Bulgarien
ist eines der ärmsten Länder Europas. Und
dennoch zieht es manche deutschen Rentner
in den Balkanstaat. Rentner wie Reinhard, ein
71-jähriger Berliner, den die RTL2-Doku-Reihe
»Armes Deutschland« dieses Jahr dabei filmte,
wie er sich daran macht, im südosteuropäi-
schen Land eine neue Heimat zu finden. Denn
dort ist ein Euro sehr viel mehr wert als hierzu-
lande. »Mit meiner Rente bin ich in Deutsch-
land lebendig begraben«, sagt Reinhard. 694
Euro erhält er im Monat. In Berlin lassen sich
damit keine großen Sprünge machen. In Bul-
garien schon, wo die Mieten und die Lebens-
mittel nur ein Drittel dessen kosten, was hier-
zulande gezahlt werden muss.
Es scheint paradox: Deutschlands Wirtschaft
wächst seit Jahren kräftig. Unternehmen stel-
len immer mehr Mitarbeiter ein. Knapp mehr
als 45 Millionen Menschen waren in diesem
Herbst versicherungspflichtig beschäftigt. Die
höchste Zahl seit der Wiedervereinigung, mel-
det das Statistische Bundesamt. Nur noch 1,4
Millionen Erwerbslose wurden im September
gezählt – 124.000 weniger als zwölf Monate
zuvor. Doch parallel dazu sehen Sozialverbän-
de und Gewerkschaften die Armut auf dem
Vormarsch.
9,5 Prozent der Bevölkerung seien inzwischen
auf staatliche Mindestsicherungsleistungen
angewiesen, sagt Rolf Rosenbrock, Vorsitzen-
der des Paritätischen Gesamtverbandes, der
Spitzenorganisation der freien Wohlfahrtspfle-
ge. »Ihre Zahl ist seit 2010 von damals 7,18
Millionen auf heute 7,86 Millionen Menschen
angestiegen.« Dass in einem reichen Land wie
Deutschland »360.000 Kinder und Jugendliche
gezwungen sind, die Tafeln zu nutzen, um satt
zu werden, ist eine Schande«, sagt Heinz Hil-
gers, Präsident des Deutschen Kinderschutz-
bundes. Barbara Eschen, Sprecherin der Natio-
nalen Armutskonferenz und Diakoniedirekto-
rin in Berlin-Brandenburg, sieht die Regierung
gern. Die einen, so scheint es, haben zu wenig
zum Leben, die anderen viel zu viel.
Andererseits, auch das machen die Reality-Sen-
dungen im TV deutlich, genießen Deutschlands
Arme einen Lebensstandard, wie ihn die Mittel-
schicht noch in den 1970er Jahren nicht kannte.
Da beschweren sich auf dem einen Programm
Sozialleistungsempfänger, dass die Mikrowelle
in der Küche in der ihnen zugewiesenen Sozial-
wohnung schon fünf Jahre alt sei. Auf dem an-
deren Sender wird lauthals beklagt, dass das
Amt zwar Geld für den Kauf eines Fernsehers
gegeben hat, nicht aber die monatliche Gebühr
für einen Kabelanschluss zahlen will. »Dann
kann ich ja nur die langweiligen öffentlich-
rechtlichen Programme sehen«, empört sich
eine 33-jährige Hartz-IV-Empfängerin vor lau-
fender Kamera eines Privatsenders – wohl zur
Freude dessen Managers.
Fakt ist auch: Arm zu sein im Deutschland des
Jahres 2018 hat nichts gemein mit der Armut,
die Max Winter, Wegbereiter der Sozialreporta-
gen im deutschsprachigen Raum, im Jahr 1902
in der Pflicht: »Alle in Armut lebenden Men-
schen leiden unter einer ungerechten Politik,
die Armut nicht bekämpft.« Die Leistungen in
der Altersgrundsicherung und bei Hartz IV sei-
en »ganz einfach zu gering bemessen und
schützen nicht vor Armut«, sagt Annelie Bun-
tenbach, Mitglied im Bundesvorstand des
Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). »Wir
brauchen eine untere Haltelinie gegen die
Spaltung in Arm und Reich und müssen den
gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.«
Leben ohne Kabelanschluss ist
zumutbar
Wie groß diese Spaltung anscheinend ist, lässt
sich den Seiten der Boulevard-Zeitungen ent-
nehmen. Da ist die 76-jährige, die Mülltonnen
nach Pfandflaschen durchsuchen muss, um ihre
karge Rente aufzubessern. Dort ist die Promi-
nente, die ihren 14 Jahre alten, an Krebs er-
krankten Hund einer tausende Euro kostenden
Chemotherapie unterziehen lässt, um dessen
Leben um vier, fünf Monate voller Magen-
schmerzen, Durchfall und Erbrechen zu verlän-
© Goran Heckler / Alamy Stock Foto
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