German Council Magazin 05.2018 - page 19

GCM 5/2018
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GERMAN COUNCIL . PERSPEKTIVE
schablonen haben sich seit der Kindheit ins Ge-
hirn eingegraben und sind wie ausgetretene Pfa-
de: Man folgt ihnen automatisch.
Um da wieder rauszukommen, hilft nach An-
sicht von Experten nur: Training. Zum Bei-
spiel einfach mal im Supermarkt nicht nach
dem ewig gleichen Joghurt greifen, sondern
eine andere Sorte ausprobieren. Was kann
schon groß passieren? Auch kleine Alltags-
entscheidungen brechen verkrustete Verhal-
tensmuster auf, sofern sie denn bewusst ge-
troffen sind. Offen, flexibel und neugierig
auf die Welt zuzugehen, kann neue Horizon-
te erschließen. Und zwar ganz gleich, in wel-
chem Alter. Den üblichen Spaziergang anders
herum zu machen als üblich, hilft selbst Seni-
oren noch, nicht einzurosten und dem Leben
neue Perspektiven zu verleihen.
Alte Denkmuster hinter sich lassen
Beim Perspektivwechsel können schon kleine Er-
folgserlebnisse große Wirkung haben. Viele
Menschen fürchteten sich davor, dass »der Tod
hinter der nächsten Ecke lauert«, wenn sie aus
dem Alltag ausbrechen. »Nicht so wörtlich na-
türlich«, so Slaghuis. »Aber sie haben Angst vor
vermeintlichem Unglück und Gefahren und ma-
len sich Horrorszenarien aus, falls sie den Chef
ansprechen. Und sehen am Ende dann oft: Das
ist aber mal gut gelaufen!«
Einen kleinen Tipp hat Coach Slaghuis für alle,
die umdenken möchten. »Ändert Dinge an
räumlichen Orten. Stellt euch zum Beispiel ein
Bild auf den Schreibtisch, das auf dem Kopf ste-
hende Menschen zeigt – als Erinnerung, alte
Denkmuster hinter sich zu lassen. Das kann auch
ein besonderer Stein sein oder ein Memo am
Kühlschrank.«
Und muss ich jetzt meine Vergangenheit verges-
sen, um privat oder beruflich glücklich zu sein?
»Im Gegenteil«, so Slaghuis. »Unseren Erfah-
rungsschatz sollten wir nutzen. Alle Erlebnisse
und Erfahrungen ad acta zu legen, wäre doch
einfach nur schade. Für Veränderungen muss ich
nicht meine Vergangenheit verstehen. Ich kann
sie dankbar annehmen – und trotzdem neue
Wege einschlagen. Perspektivenwechsel bringt
Menschen weiter, führt zu Wohlgefühl und
Selbstbestimmung.«
Ein Beitrag von
Susanne Müller,
freie Journalistin
Der Karriere- und Business-Coach
Dr. Bernd
Slaghuis
aus Köln hat sich auf Themen rund
um Karriere, Bewerbung und Führung speziali-
siert. Stationen seines Werdegangs: Bankkauf-
mann, Studium und Promotion in Wirtschafts-
wissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum,
Vorstandsassistent und Leiter Unternehmens-
entwicklung bei einer Kölner Versicherung, seit
acht Jahren selbstständig als Coach. Sein Blog
»Perspektivwechsel« ist einer der meistgele-
senen Karriere-Blogs in Deutschland: www.
bernd-slaghuis.de.
Selbst bei Misserfolgen soll man immer weiter
probieren. »Lernerfahrungen müssen nicht im-
mer gut sein, aber aus Angst vor Fehlern gar
nichts zu verändern, ist mit Sicherheit der fal-
sche Weg. Dort anfangen, wo es am meisten
pressiert – im Job oder privat. Nicht selten
hängt ohnehin beides zusammen. Familien
üben häufig Druck aus, warnen vor der Kündi-
gung – aus Furcht vor finanziellen Konsequen-
zen. Auch in solchen Fällen sind Gespräche un-
erlässlich.« Duckmäusertum hat noch nie rei-
che Ernte eingefahren.
Thesen von gestern funktionieren nicht
für die Zukunft
In ganz Europa greift derzeit der Rechtspopulismus
um sich und scheint für immer mehr Menschen die
simple Antwort auf komplexe Fragen zu sein. Voll-
zieht die Gesellschaft gerade einen fatalen Perspek-
tivwechsel? Kommen die ewig Gestrigen an die
Macht? »Wir müssen nüchtern konstatieren, dass es
dieses Phänomen gibt«, sagt Frank Decker. Er ist
Politikwissenschaftler an der Universität Bonn und
Experte für Rechtspopulismus. »Jüngste Untersu-
chungen haben gezeigt, dass 75 Prozent der befrag-
ten Deutschen glauben, früher sei alles besser gewe-
sen.« Die Ursachen sieht er in einer auseinander-
driftenden Gesellschaft – in Zeiten der Globalisie-
rung ein weltweites Problem in kultureller und sozi-
aler Hinsicht. »Dabei stimmt das nicht – zumindest
nicht für jedermann. Homosexuelle zum Beispiel
und Frauen, die lange um ihre Gleichberechtigung
kämpfen mussten, hatten es damals sicher nicht
leichter als heute.« Sogenannte Take-back-Control-
Programme mit den Thesen von gestern werden
nicht funktionieren, ist er überzeugt. Bestes Beispiel
sind die Brexit-Briten, welche die Folgen jetzt zu
spüren bekommen. »Wir brauchen einen Perspekti-
venwechsel: Der Rückzug in die nationale Identität
ist nicht zukunftsweisend. Die Gesellschaft benötigt
mehr Zusammenhalt. Andererseits sollten wir auch
offen und ehrlich diskutieren – über Grenzen der
Zuwanderung zum Beispiel«, sagt Decker.
© bruce mars – pexels.com
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