German Council Magazin 05.2018 - page 10

GCM 5/2018
GERMAN COUNCIL . PERSPEKTIVE
Das Zeichnen hat er sich selbst beigebracht –
und dabei obendrein erstmals in der Geschichte
der Menschheit ein Verfahren entwickelt, um
die dreidimensionale Welt auf nur zwei Dimen-
sionen abzubilden. Agatharchos von Samos,
Bühnenmaler im Athen des fünften Jahrhun-
derts vor Christi, gelang, woran später, über
Jahrhunderte hinweg, viele Künstler scheitern
sollten: die perspektivische Darstellung.
Länge, Breite und Höhe – diese drei Koordina-
ten machen die reale Welt aus. Doch Malern
und Grafikern bietet eine Leinwand nur zwei Di-
mensionen, um die Wirklichkeit darzustellen:
Breite und Länge. Aber diese natürlichen Gren-
zen der Zeichenfläche lassen sich überwinden,
wenn Gegenstände so gemalt werden, dass
»das eine zurücktretend, anderes hervortretend
zu sein scheint«, fasst Agatharchos seine Er-
kenntnisse in einer Schrift über die Bühnenma-
lerei zusammen. Für die Aufführung eines Dra-
mas des Aischylos, neben Euripides und Sopho-
kles der dritte große Dichter griechischer Tragö-
tunae, dem heutigen Fano. Für den Vorläufer
heutiger Shopping Center erdenkt Vitruv eine
Fußbodenheizung. Die Wände zieren Fresken
mit perspektivischer Darstellung.
Das ist zu dieser Zeit im römischen Reich nicht
ungewöhnlich, wie Ausgrabungen in Hercula-
neum und Pompeji zeigen. Villen in dem durch
einen Ausbruch des Vesuvs um 79 nach Christi
unter Vulkanasche verschütteten Städten tra-
gen Fresken, die deren Wände wie ein Fenster
in einen gemalten Garten wirken lassen. In der
Villa dei Misteri, der Mysterienvilla, in Pompeji
sind die Wände nicht nur geschmückt mit Sze-
nen aus der griechischen Mythologie. Einige
Fresken zeigen auch Scheinarchitektur – Male-
reien, die dem Betrachter dreidimensionale
Deckengewölbe vorspiegeln.
Doch das Wissen um die Kunst geht verloren,
als das Imperium zerfällt. Das von Konstantin
dem Großen privilegierte und später zur
Staatsreligion erhobene Christentum setzt völ-
lig neue Akzente in der Malerei. Nicht Realis-
mus, sondern Verklärung ist nun gefragt. Es
kommt nicht länger auf die räumliche Perspek-
tive an, sondern auf die Bedeutungsperspekti-
ve: Je wichtiger eine Person für die Religion ist,
desto größer wird sie in Relation zu anderen
Figuren auf dem Bild dargestellt. Jesus über-
ragt seine Jünger, die wiederum die übrigen
Menschen an Größe übertreffen.
Die Macht der perspektivischen
Darstellung
Es dauert gut eintausend Jahre, bis die perspek-
tivische Darstellung wiederentdeckt wird. Ihr
zweiter »Erfinder« ist Filippo Brunelleschi. 1377
in Florenz als Sohn eines wohlhabenden Notars
geboren, genießt er eine vorzügliche Ausbil-
dung in Mathematik, Architektur, Bildhauerei
und Goldschmiedekunst. Er ist Zeichner und
Baumeister der Kuppel von Santa Maria del Fio-
re, der Kathedrale von Florenz. 45 Meter breit
und 107 Meter hoch ist ihr Gewölbe.
FLUCHTLINIEN ZUM ZENTRUM
Jahrhundertelang ringen Maler darum, in ihren Gemälden die Welt so realistisch wie möglich
wiederzugeben. Die Entwicklung der perspektivischen Darstellung macht es Brunelleschi und
Dürer schließlich möglich, drei Dimensionen auf eine nur zweidimensionale Ebene zu bannen.
Künstler der Moderne wie Cezanne, Picasso und Braque brechen ganz bewusst mit diesem
Streben nach Perfektion und eröffnen neue Perspektiven
dien, setzt Agatharchos dieses Verfahren erst-
mals um. Das Publikum ist begeistert.
Basilica domus – das antike
Warenhaus
Höchste Anerkennung zollt dem Griechen
noch gut 400 Jahre später der römische Archi-
tekt und Ingenieur Vitruv in seinen zwischen
33 und 22 vor Christi geschriebenen De ar-
chitectura libri decem – zehn Bücher über Ar-
chitektur. Ein »homo summi ingenii« – ein
Mensch erfüllt von Genie – sei Agatharchos,
schreibt Vitruv. Der ist selbst ein Universalge-
nie seiner Zeit. Für Gaius Julius Cäsar baut er
die Kriegsmaschinen, die dem Feldherrn die
Eroberung Galliens ermöglichen. Für Augus-
tus, Cäsars Nachfolger und erster Kaiser des
Imperiums, bringt er das Wassernetz Roms auf
den neuesten Stand, baut Aquädukte und ent-
wirft Pumpen, um Steigungen zu überwinden.
Später errichtet er die Basilica domus, das gro-
ße Warenhaus der Hafenstadt Fanum For-
© Anamorphosis – de.wikipedia.org
Studien zur perspektivischen Sicht auf ein Objekt: Holzschnitt von Albrecht Dürer (1525)
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