GCM 5/2017
GERMAN COUNCIL . Integration
Europa am Scheideweg
Die europäische Integration ist ins Stocken geraten. Mit dem Ausscheiden Großbritanniens aus
der Union wird erstmals klar, wie fragil das Bündnis wirklich ist. Der Brexit war die Initialzündung
für eine allgemeine Diskussion über die Zukunft Europas. Wird die Europäer bald nicht mehr als
ein gemeinsamer Binnenmarkt verbinden? Kann eine politische Reform überhaupt klappen?
Oder geht irgendwann sogar wieder jedes Mitgliedsland seine eigenen Wege? Vier Szenarien,
wie es weitergehen könnte
Europa befindet sich in einer tiefen Krise. In
vielen Ländern sind rechtspopulistische, natio
nalkonservative und EU-feindliche Parteien er
starkt, deren Politik einer fortschreitenden In
tegration zuwiderlaufen. Die Euro-Krise hat die
Währungsunion nachhaltig erschüttert und ist
längst noch nicht vollständig überstanden.
Und mit Großbritannien hat sich zum ersten
Mal ein Staat entschieden, die Gemeinschaft
freiwillig zu verlassen. 2019 ist es so weit. Den
noch verlaufen die Verhandlungen über den
Ausstieg immer noch schleppend. Ein unge
ordneter Brexit könnte die Folge sein. Und das
sind nur die Probleme innerhalb Europas. US-
Präsident Donald Trump mit seiner »America
First«-Politik, der Syrien- und der Ukraine-Kon
flikt sowie das daraus resultierende ange
spannte Verhältnis zu Russland sind die Her
ausforderungen auf internationaler Ebene, de
nen sich die Europäer stellen müssen. Vor die
sem Hintergrund stellt sich die Frage: Was wird
aus dem Jahrhundertprojekt Europa?
Szenario: Shopping-Mall des
Weltmarkts
Der gemeinsame Binnenmarkt ist das Herz
stück der Europäischen Union. In keinem an
schen Verträge. Der 25. März 1957 gilt als Ge
burtsstunde der Gemeinschaft. In seinem Pa
pier schilderte Juncker genau dieses Szenario
als eine Alternative zur bisherigen EU.
Würden sich die Nationalstaaten darauf ver
ständigen, würden viele Politikbereiche auf
europäischer Ebene keine Rolle mehr spielen.
Europa könnte hier nicht mit einer gemeinsa
men Stimme sprechen. Das gilt etwa für The
men wie Klimaschutz, Arbeits- und Sozialrecht
oder Steuerhinterziehung. Kritische Stimmen
gibt es zuhauf gegen eine solche EU. Der Öko
nom Peter Bofinger etwa stellte dazu in einem
Gastbeitrag in der Wochenzeitung »Die Zeit«
die Frage: »Wozu braucht man ein Europa, das
lediglich eine Shopping-Mall des Weltmarkts
sein will?« Auch die SPD-Bundestagsfraktion
und der ehemalige Bundesverfassungsrichter
Dieter Grimm sehen ein solches Szenario als
einen Irrweg an, den Europa nicht einschlagen
sollte.
Szenario: Europa der unterschied
lichen Geschwindigkeiten
Die Vorstellungen, wie Europa aussehen sollte,
sind beinahe so unterschiedlich, wie es Men
deren Politikfeld ist die Integration soweit fort
geschritten wie hier. Vom freien Verkehr von
Waren, Dienstleistungen, Kapital und Men
schen haben alle Bereiche der Wirtschaft glei
chermaßen profitiert – auch die Immobilien
wirtschaft und der Einzelhandel.
Mit mehr als 500 Millionen Einwohnern gilt
der EU-Binnenmarkt als der größte der Welt.
Seit den 1990er-Jahren hat die Freizügigkeit
an innereuropäischen Grenzen die Wirt
schaftskraft gesteigert und Millionen von Ar
beitsplätzen entstehen lassen. Davon profitie
ren viele der heute noch 28 Mitgliedstaaten
– insbesondere die exportierende deutsche
Wirtschaft.
Viele Euro-Skeptiker wünschen sich, dass die EU
genau darauf ihren Fokus setzt und im gemein
samen Binnenmarkt seinen einzigen und allei
nigen Daseinszweck sieht. Das würde Europa
auf eine reine Wirtschaftsunion reduzieren.
Das Szenario ist auf jeden Fall nicht undenk
bar. Anfang 2017 präsentierte Kommissions
präsident Jean-Claude Juncker ein Weißbuch
zur Zukunft der EU. Das Papier veröffentlichte
er anlässlich des 60. Jahrestages der Römi
Donald Trump
Vladimir Putin
Jean Claude Juncker
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