German Council Magazin 05.2017 - page 30

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GCM 5/2017
GERMAN COUNCIL . Integration
Die Willensnation aus den Alpen
In der Schweiz leben Menschen aus vier Kultur- und Sprachkreisen weitgehend konfliktfrei
zusammen. Was sie zusammenhält, ist ihre jahrhundertealte Basisdemokratie und der Wille
zur Verteidigung von Einheit und Freiheit. Dass ein Viertel ihrer Einwohner heutzutage einen
ausländischen Pass besitzt, stört die Schweizer wenig. Die meisten Fremden werden
ohnehin irgendwann zu Eidgenossen
Allegra, Bonjour, Buongiorno, Grüezi – vier
Sprachen, ebenso viele Kulturen, ein Land.
Das ist die Schweiz. Einer der wenigen Staa­
ten, deren Zusammenhalt nicht auf einer ein­
heitlichen Zunge, Ethnie oder Religion basiert
– und dennoch fühlen
sich die 8,3 Millionen
Eidgenossen einander
so eng verbunden wie in
wenigen anderen Län­
dern, in denen ebenfalls
diverse Volksgruppen le­
ben.
Welche große Ausnahme die Schweiz ist, zeigt
ein Blick auf das übrige Europa: Belgien, 1830
durch Aufstand der katholischen südlichen
Provinzen vom Niederländischen Königreich
losgelöst, ist seit Jahrzehnten zerrissen durch
den Konflikt der französischsprachigen Wallo­
nen und der niederländischsprachigen Flan­
dern. Nach jeder Wahl wird es schwieriger,
eine Koalition zu schmieden. In Spanien rufen
immer wieder Basken, Galicier und jüngst be­
sonders laut die Katalanen nach Unabhängig­
keit. In Großbritannien drängen seit dem Bre­
xit-Votum schottische Nationalisten wieder
stärker auf einen eigenen Exit.
Bndnis-Kitt: Freiheit und
Mitbestimmung
In der eidgenössischen Alpenrepublik hinge­
gen wollen sich weder Deutschschweizer,
noch Rätoromanen, weder die französisch
sprechenden Bewohner der Romandie noch
die italienisch parlierenden Tessiner vom ge­
meinsamen Staatsgebilde verabschieden. Im
Gegenteil: Kaum ein Schweizer will anders­
wo leben. Lediglich rund 28.000 Eidgenossen
– 0,03 Prozent der Bevölkerung – zieht es
nach Angaben des Departements für auswär­
tige Angelegenheiten, EDA, jedes Jahr ins
Ausland. Den Großteil davon zum Studium.
Nach dessen Abschluss kehren die meisten
zurück. Als »Willensnation« hat darum der
»Stimmvolk« genannten Wählerschaft datie­
ren um das Jahr 1275 – und damit aus einer
Zeit, in der die Eidgenossenschaft noch gar
nicht gegründet war.
Bodenstndig, aber nicht national
»Das Gewebe, das dieses Land zusammenhält,
ist vom Kleinen her gewoben«, sagt Michael
Hermann vom Politikwissenschaftlichen Insti­
tut der Universität Zürich. Der Volkswirt und
Historiker hat in seinem Essayband »Was die
Schweiz zusammenhält« detailliert analysiert,
wie und warum die Willensnation seit Jahr­
hunderten funktioniert. Eine Erkenntnis: Die
Eidgenossen lieben ihr Land und seine Eigen­
ständigkeit, frönen jedoch nicht dem Nationa­
lismus. »Die Schweizerinnen und Schweizer le­
ben ihr Leben, ohne angestrengt nationale Be­
ziehungsarbeit zu leisten«, sagt Hermann. Da­
bei schafften sie »ganz nebenbei Kohäsion«.
Kohäsion steht im Allgemeinen für den politi­
schen Zusammenhalt einzelner Staaten oder
Regionen. Für die Schweizer bedeutet Kohäsi­
on die Geburtsstunde ihres Staates. Vor 726
französische Historiker Ernest Renan das Land
zwischen Bodensee und Lago Maggiore be­
zeichnet. Ein Staat, hervorgegangen aus der
bewusst gewollten Gemeinschaft von Men­
schen unterschiedlicher Sprache und ethni­
scher Herkunft.
»Für die politische Integ­
ration Europas«, sagt der
frühere Bundesaußenmi­
nister Joschka Fischer,
»ist die Schweiz das Vor­
bild«. Was die Eidgenossenschaft von all jenen
Ländern unterscheidet, in denen ethnische
Teilgruppen nach Ausbruch rufen, ist das föde­
rale System mit seinen 26 teilsouveränen Kan­
tonen, das den Menschen viele Freiheiten lässt
und weitgehende Mitbestimmungsmöglich­
keiten bietet. In keinem anderen Land ist die
direkte Demokratie so ausgeprägt. Über Volks­
initiativen und Volksabstimmungen nehmen
die Schweizer stetig massiven Einfluss auf die
Politik – von der kommunalen über die kanto­
nale bis zur Bundesebene. Und zwar seit Jahr­
hunderten. Erste schriftliche Aufzeichnungen
über solche Initiativen der in der Schweiz
Autorin Jasmin El Sonbati
Politikwissenschaftler Michael Hermann
›Der Islam gehört zur
Schweiz.‹
Jasmin El Sonbati
© Gian Marco Castelberg
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