Page 8 - German Council Magazin 04.2021
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          die EU-Kommission bis 2030 aufwenden
          will, um Europa auf dem Weg zur Kli-
          maneutralität voranzubringen. Allein
          Berlin investiert von 1873 bis 1890 den                                                             © venakr – istockphoto.com
          gewaltigen Betrag von 87,2 Millionen
          Mark in den Bau der Kanalisation – bei
          einem jährlichen Steueraufkommen von
          lediglich 13,7 Millionen Mark. Doch mit
          den Investitionen in die Abwassersiele
          und Trinkwasserleitungen kommen euro-
          paweit Millionen Arbeiter in Lohn und
          Brot, erhalten die Finanzkraft, um zu
          konsumieren – und geben so dem Handel
          Auftrieb.

          Es ist die Grundlage für den Gründer-
          boom und die Hochkonjunktur der euro-
          päischen Wirtschaft in den Jahren vor
          dem  Ersten  Weltkrieg.  Besonders  stark
          profitiert Deutschland davon. Von 1871
          bis 1914 versechsfacht sich die industriel-
          le Produktion des neuen Kaiserreichs, die
          Ausfuhren vervierfachen sich. Bis 1914   La Rambla in Barcelona, Spanien: urbanes Leben gehört seit dem Mittelalter zu Barcelonas Innenstadt
          entwickelt sich Deutschland zur größten
          Wirtschaftsnation Europas: Ihr Anteil an
          der Weltindustrieproduktion liegt bei 15   zept bereits vor etlichen Jahren erdacht   »Ein weiteres Beispiel ist Barcelona«,
          Prozent, der Großbritanniens bei 14 Pro-  hat: Die 15-Minuten-Stadt – Quartiere,   sagt Beyerle. In den Ramblas im Zentrum
          zent. Mit den USA allerdings kann be-  in denen Menschen von ihrer Wohnung   der Hauptstadt Kataloniens sind die Erd-
          reits damals keine europäische Nation   aus binnen eines viertelstündigen Fuß-  geschosse und Soutterrains der Wohn-
          mehr mithalten. Ihr Anteil beträgt 32   wegs zu ihrem Job, zu ihren Freizeittä-  häuser gefüllt mit Geschäften, Bars, Res-
          Prozent.                          tigkeiten und zu ihren Geschäften gelan-  taurants und kleinen Handwerksbetrie-
                                            gen können.                       ben, während die ersten Stockwerke häu-
          Kiez der kurzen Wege                                                fig von Arzt- und Rechtsanwaltspraxen
                                            Die Idee der »Kieze der kurzen Wege«   sowie kleineren Unternehmen angemietet
          »Wie die Cholera-, wird auch die Coro-  entspräche den Anforderungen, die künf-  sind. Diese Aufteilung in der 1,6 Millio-
          na-Pandemie das Antlitz der Städte ver-  tige Pandemien stellen würden, sagt Bey-  nen Einwohner zählenden Mittelmeer-
          ändern«, prognostiziert Analyst Beyerle,   erle. »Menschen wären nicht mehr ge-  Metropole ist aber keineswegs auf den
          der von Haus aus Diplom-Geograf ist.   zwungen, lange Fahrzeiten in öffentli-  Eingriff moderner Stadtplaner zurückzu-
          Diesmal  nicht  durch  den  milliarden-  chen Verkehrsmitteln und die damit ver-  führen. Im Gegenteil: Hier sieht es schon
          schweren Bau neuer Hygieneeinrichtun-  bundenen  Infektionsrisiken  auf  sich  zu   sehr lange so aus. »Im Zentrum Barcelo-
          gen, wie es bei der Einführung der Kana-  nehmen, weil sie alle Ziele im täglichen   nas haben sich die alten Wohn-, Arbeits-
          lisation in Europa der Fall war, sondern   Leben zu Fuß erreichen könnten.«   und Einkaufsstrukturen aus dem Mittel-
          durch eine Anpassung der Quartiere an                               alter bis heute gehalten«, sagt der Resear-
          die neuen Bedürfnisse der Menschen.   Rückkehr zum Marktplatz       cher. Die 15-Minuten-Stadt sei quasi eine
          »Überall in europäischen Städten gibt es                            Rückkehr in frühere Zeiten, als der
          eine zunehmende Vernetzung der Grund-  Beispiele für solche Quartiere gibt es   Marktplatz, an dem Händler ihre Waren
          funktionen des Daseins in den einzelnen   schon. Im kanadischen Vancouver sind   feilboten, noch der Mittelpunkt urbanen
          Wohngebieten«, sagt Beyerle. »Arbeiten,   bereits in der Rezession von 2001 bis   Lebens war.
          Einkaufen, Wohnen, dazu Angebote aus   2003 leerstehende Bürotürme in kombi-
          Bildung und Kultur – all dies wird zuneh-  nierte Wohn- und Arbeitsviertel umge-
          mend in jedem einzelnen Kiez geboten.«  wandelt worden. In den unteren Geschos-  Ein Beitrag von
                                            sen sind Geschäfte, Restaurants, Arztpra-  Richard Haimann,
          Damit entsteht, was der französisch-ko-  xen und Fitnesscenter zu finden. Die zwei-  freier Journalist
          lumbianische Professor für komplexe   ten, dritten und vierten Etagen verblieben
          Systeme und intelligente Städte an der   für Büros. Die darüber liegenden Stock-
          Pariser Sorbonne Universität als Kon-  werke sind zu Wohnungen geworden.



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