German Council Magazin 04.2018 - page 35

GCM 4/2018

GERMAN COUNCIL . WANDEL
Als die Investmentbank Lehman Brothers, ein
158 Jahre alter Gigant der Wall Street, am 15.
September 2008 in die Insolvenz fährt, ist das
ein Schock für die globale Wirtschaft. Nur Tage
später geraten europäische und asiatische
Banken unter massiven Druck. In Deutschland
brennt es beim Immobilienfinanzierer Hypo
Real Estate und einigen Landesbanken. Kein Fi-
nanzinstitut traut mehr einem anderen. In Pa-
nik drehen die Geldhäuser rund um den Glo-
bus die Kredithähne zu. Der Realwirtschaft
droht der Zusammenbruch. Millionen Men-
schen bangen, ihren Job zu verlieren.
In Deutschland fürchtet die Bundesregierung
einen Ansturm verängstigter Sparer auf die
Banken, um ihr Geld abzuheben und in Si-
cherheit zu bringen. Am Sonntag, 5. Oktober,
treten Angela Merkel und der damalige Fi-
nanzminister Peer Steinbrück in Berlin ge-
meinsam vor die Kameras. »Wir sagen den
Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen
sicher sind«, erklärt die Kanzlerin. Die Bun-
desregierung, ergänzt Steinbrück, werde
»Sorge tragen«, dass niemand auch nur »ei-
nen Euro verliert«.
Den Weg in die Finanzkrise hat ein politisches
Gespann gebahnt, dessen Mitglieder per Par-
teibuch den Interessen der Arbeitnehmer ver-
pflichtet sind, die nun um ihre Beschäftigung
und ihre Ersparnisse bangen. In den USA ist es
der Demokrat Bill Clinton. Der 42. Präsident
der Vereinigten Staaten hebt die zur Bewälti-
gung der Großen Depression der 1930er Jahre
erlassene strikte Trennung der Finanzwelt in
Geschäfts- und Investmentbanken auf.
In Deutschland gewährt die rot-grüne Koalition
unter dem Sozialdemokraten Gerhard Schröder
mit dem 2002 verabschiedeten Vierten Finanz-
marktförderungsgesetz den Banken eine nie zu-
vor gekannte Flexibilität bei ihren Geschäften.
In Großbritannien befreit die Labour-Regierung
unter Premierminister Tony Blair die Finanzinsti-
tute von den Zügeln der Regulierung. Spanien
folgt unter dem neoliberalen Ministerpräsiden-
ten José María Aznar López, Irland unter dem
konservativen Regierungschef Patrick Bartholo-
mew Ahern den Beispielen.
Die Deregulierung macht den Weg frei für
neue kreative Finanzprodukte. Eines davon:
MBS – Mortgage Backed Securities, verbriefte
Pakete von Hypothekenkrediten. Banken müs-
sen die von ihnen ausgereichten Immobilien-
darlehen nicht länger auf die eigenen Bücher
nehmen, sondern können sie bündeln und als
Wertpapier an andere Investoren ausreichen.
Das ermöglicht ihnen, immer waghalsigere Im-
mobilienfinanzierungen zu vergeben. In den USA,
in Irland und Spanien bekommen Projektentwick-
ler so die nötigen Kredite, um ganze Geisterstädte
aus dem Boden zu stampfen. Spekulanten erhal-
ten Darlehen, um diese Häuser und Wohnungen
zu erwerben – nur um sie so bald wie möglich mit
Gewinn an andere Finanzjongleure weiterzuver-
kaufen. Weil die Renditen hoch erscheinen, die Ri-
siken in den hunderte Seiten umfassenden Ver-
briefungsdokumenten aber kaum erkennbar sind,
stürzen sich in Deutschland sogar einige Landes-
banken auf die MBS-Pa-
piere. »Die Finanzkrise«,
bilanziert der Wirtschafts-
wissenschaftler Steffen
Sebastian, Professor am
IREBS-Institut der Univer-
sität Regensburg, »war
im Kern eine Krise der Im-
mobilienfinanzierung.«
Das Ganze explodiert, als in den USA erste Kre-
dite nicht mehr bedient werden können.
Zwangsversteigerungen lassen die Immobili-
enwerte einbrechen, lösen weitere Zwangsver-
wertungen aus, die für weitere Preisstürze sor-
gen. Ein Teufelskreis. Auch in Irland und Spani-
en kollabieren die überhitzten Immobilien-
märkte. Banken beben, etliche von ihnen ge-
hen pleite. In der Eurozone registriert die
EU-Statistikbehörde Eurostat bei der Industrie-
produktion von 2008 auf 2009 einen Einbruch
um 20 Prozent – und damit in exakt demselben
Ausmaß wie während des ersten Jahres der
Großen Depression in den 1930er Jahren in
Deutschland und den USA.
Die Notenbanken zu
beiden Seiten des Gro-
ßen Teichs reagieren im
Einklang auf die Krise:
Sie senken die Leitzin-
sen auf Null und erwer-
ben für Milliardenbeträ-
ge Staats- und Unter-
nehmensanleihen, um
die Realwirtschaft mit
Kapital zu versorgen. Hingegen unterscheiden
sich die Reaktionen der Politik gravierend. Die
US-Regierung handelt pragmatisch: 528 ange-
schlagene Banken, die unbedeutend für den Ka-
London, Großbritannien. 15. September 2018: Demonstranten vor der Royal Exchange und der Bank of England am 10. Jahrestag
des Zusammenbruchs von Lehman Brothers
© Mark Thomas / Alamy Stock Photo
›Alle deutschen Banken
haben ihre Bilanzen
geschrumpft.‹
Sabine Barthauer, Vorstand der Deutschen Hypo
1...,25,26,27,28,29,30,31,32,33,34 36,37,38,39,40,41,42,43,44,45,...92
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