GCM 2/2018
GERMAN COUNCIL . ANERKENNUNG
1804 dahingeschieden, fern ab von Gewalt und
Kriegen, die zu jener Zeit immer wieder Europa
durchziehen. Dass Zeitgenossen seine Moralvor
gaben theoretisch für ihre düsteren Zwecke nut
zen könnten, mag dem Denker nicht so recht in
den Sinn gekommen sein.
Es ist ein Politiker, der diese Lücke in Kants Über
legungen findet. Henri-Benjamin Constant de
Rebecque, im schweizerischen Lausanne gebo
ren und für deutsche Fürsten als Diplomat arbei
tend, erkennt, dass der kategorische Imperativ
an demselben Rigorismus krankt wie die Golde
ne Regel. Beiden ethischen Grundsätze zufolge,
argumentiert der Eidgenosse, ist das Lügen ver
boten. Somit wären in beiden Fällen Menschen
gezwungen, einem Mörder zu verraten, wo sein
Opfer wohnt, sollten sie von ihm danach gefragt
werden. Damit stünden beide Gedankengebäu
de nicht nur im Widerspruch zur moralischen
Pflicht, das Opfer vor dem Täter zu schützen –
sie führten auch zu einer unlösbaren Pflichten
kollision: Es sei in diesem Fall nicht möglich, die
beiden moralischen Vorgaben, nicht zu lügen
und Menschenleben zu schützen, in Einklang zu
bringen. Dabei müsste doch die Anerkennung
der eigenen Verantwortung den Mitmenschen
gegenüber dazu zwingen, den Verbrecher anzu
lügen.
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Erst dem amerikanischen Philosophen Marcus
George Singer gelingt es im 20. Jahrhundert, das
scheinbare ethische Dilemma im kategorischen
Imperativ aufzubrechen. Anders als die Goldene
Regel schreibe Kants Maxime keine klaren
Handlungsanweisungen vor, sondern allgemei
ne Verhaltensmaßregeln, argumentiert der von
1952 bis 1994 an der University of Wisconsin-Ma
dison lehrende Professor der Moralphilosophie.
»Wenn ein Mensch sich die Handlungsmaxime
setzt, notfalls zu lügen, um das Leben anderer zu
bewahren, steht dies nicht im Widerspruch« zu
Kants Gebot der Vernunft. Auch bestehe bei ei
ner solchen einschränkenden Erlaubnis zum Lü
gen »nicht die Gefahr, dass niemand mehr darauf
vertrauen könne, dass ihm nicht die Wahrheit ge
sagt würde«, legt Singer dar.
Der Mensch trgt Verantwortung
fr das Wohl aller Lebewesen
Andere Denker greifen die Idee eines kategori
schen Imperativs auf, um sie in ihre eigenen The
orien einzubinden. Der Bekannteste von ihnen
ist Karl Marx. Der Ökonom und Theoretiker von
Disput zwischen Königin Cristina Vasa von Schweden und René Descartes, von Nils Forsberg nach einem Gemälde von Pierre-Louis Dumesnil dem Jüngeren (1884)
Immanuel Kant von Gottlieb Doebler (1791)
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