German Council Magazin 05.2017 - page 10

GCM 5/2017
GERMAN COUNCIL . Integration
Herr Professor Glück, kann Integration ohne
entsprechendes Sprachniveau überhaupt ge-
lingen?
Es gibt historische Beispiele, die belegen, dass
Integration ohne entsprechende Sprachkennt­
nisse lange dauert, etwa in den China-Towns in
New York und anderen Städten Nordamerikas
oder in Argentinien, wohin vor gut 100 Jahren
Millionen Italiener ausgewandert sind. Der
Scherz, Argentinier seien Italiener, die halb­
wegs spanisch sprächen, ist dieser Einwande­
rungswelle geschuldet. Grundsätzlich aber sind
mangelnde Sprachkenntnisse ein Hindernis bei
der Integration und Sprache damit ein wesentli­
cher Faktor dafür, dass Menschen schnell in ei­
nem fremden Land ankommen und einen gu­
ten Job finden – oder eben nicht. Eine Faustre­
gel besagt, dass es die erste Generation schwer
hat: als Erwachsener eine fremde Sprache zu
lernen, ist schwer. Die zweite Generation ist in
herrschen sie aber auch nicht gut, schon gar
nicht geschriebenes Türkisch. Das ist das Dilem­
ma. Und es geht ja weiter: Mangelnde Sprach­
kenntnisse sind dafür verantwortlich, warum ei­
nige türkische Migranten viel schlechter in Schu­
le und Ausbildung abschneiden. Übrigens hat
man schon bei einer der ersten Teilgruppen der
sogenannten Gastarbeiter erkannt, dass es für
ihre Kinder schädlich war, den Sommer in
Deutschland und den Winter in Italien zu ver­
bringen. Migrantenkinder, die das ganze Jahr
über hier blieben, waren der sogenannten Pen­
delmigration ausgesetzten italienischen Kindern
gegenüber sprachlich im Vorteil.
Es wäre demnach hilfreich, wenn Migranten-
kinder früher an die Zweitsprache herange-
führt würden, etwa im Kindergarten?
Ja, das wäre es ganz sicher. Aber hierzulande
gibt es keine Kindergartenpflicht, und ich kann
mir auch nicht vorstellen, dass sich das eines Ta­
ges ändert. Das ist politisch nicht gewollt. Bei
uns gilt nur die Schulpflicht.
Politisch opportun war es auch nicht, Neuan-
kömmlinge zu einem Sprachkurs zu verpflich-
ten. Das sollte jedem selbst überlassen sein.
Ein schwerer Fehler, der auch mit dafür verant-
wortlich ist, dass die meisten Türken hierzu-
lande viel schlechter ausgebildet sind als an-
dere Migranten?
Auf jeden Fall. Wer auf Dauer in ein fremdes
Land kommt und sich dort nicht verständigen
kann, hat keine gute Lebensperspektive. Spra­
che ist zwar nicht alles, aber ohne Sprache ist
alles nichts. Niemand gibt Dir einen Job – ei­
nen qualifizierten schon gar nicht. Jedem
selbst zu überlassen, ob er Deutsch lernen will
oder nicht, ist eigentlich eine sehr unsoziale
Politik. Ich erinnere mich gut an die Anfänge,
als zu Beginn der 1970er Jahre die ersten Kurse
»Deutsch als Fremdsprache« entwickelt wur­
den. Damals war ich selbst als pädagogischer
Mitarbeiter in Gelsenkirchen daran beteiligt.
»Sprache ist nicht alles,
aber ohne Sprache ist alles nichts«
Wer nicht dieselbe Sprache spricht, kann sich nur schwer verständigen. Das gilt zwar auch für die
nonverbale Ebene, wie die gescheiterten Sondierungsgespräche potenzieller Koalitionspartner
einer Jamaika-Regierung gezeigt haben. Tatsächlich aber hatten die Protagonisten den Vorteil, alle
Deutsch zu sprechen. Das können hierzulande immer noch viele türkische Migranten eher
schlecht als recht. Selbst in dritter und vierter Generation mangelt es an Sprachkenntnissen, die
aber der Schlüssel zu Job, Wohlstand und Integration sind, sagt der Sprachforscher Helmut Glück
der Regel schon zweisprachig, und die dritte Ge­
neration vollzieht den Sprachwechsel zur Lan­
dessprache und ist dann sprachlich integriert.
Wenn dem so ist, warum spricht man immer
noch von »doppelseitiger Halbsprachigkeit«?
Dieser Ausdruck wurde zu Unrecht als diskrimi­
nierend kritisiert. Er bezeichnet einen Sachver­
halt, der nicht nur in Deutschland, sondern auch
in anderen Ländern beobachtet wurde, nämlich
dass Migrantenkinder in beiden Sprachen bis
zum Schuleintritt auf kein konkurrenzfähiges
Sprachniveau kommen. Bei uns gibt es Kinder,
die in diesem Alter weder halbwegs türkisch
noch halbwegs deutsch sprechen können. Sie
wachsen, bis sie eingeschult werden, haupt­
sächlich in Familien und Nachbarschaften auf,
wo nur türkisch gesprochen wird. Wenn sie in
die Schule kommen, können sie gar nicht oder
nur schlecht Deutsch. Die türkische Sprache be­
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Der Turmbau zu Babel und die Verwirrung der Sprachen (Genesis 11)
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